Berlin Can’t Have It Both Ways  

Warum Deutschland Migration als europäische Strukturfrage – und nicht als nationales Sicherheitsproblem begreifen muss  

Europa ringt mit der Migration – rechtlich, politisch, moralisch. Deutschland fordert in Brüssel gemeinsame Verantwortung, setzt zu Hause aber auf Abschottung: Grenzkontrollen, Drittstaatenregelungen, Rückführungen. Aus Regierungssicht ist das konsequent – nationale Maßnahmen gelten als nötig, solange europäische Lösungen fehlen. Doch genau diese Haltung zeigt, was fehlt: ein strategischer Rahmen, der Migration als europäische Strukturaufgabe begreift. Einen möglichen Hebel dafür bietet der geplante „Pakt für das Mittelmeer“, der im Herbst 2025 vorgestellt werden soll – vor allem in Bereichen wie Arbeits- und Bildungsmobilität. Er könnte ein neuer Anfang sein – wenn Berlin bereit ist, Haltung zu zeigen statt Stimmungen zu bedienen.

Autor:innen

Alma Gretenkord – Leiterin Hauptstadtforum Berlin der Jungen DGAP, freie Beraterin  

Worum es geht

Im Juli 2025 versammelte Innenminister Alexander Dobrindt Amtskollegen aus Frankreich, Polen, Österreich, Dänemark und Tschechien auf der Zugspitze – ein symbolträchtiger Auftakt für den migrationspolitischen Kurswechsel der neuen Bundesregierung. Berlin positioniert sich seither als Antreiber einer restriktiven Linie: Drittstaatenmodelle, mehr Abschiebungen, Grenzkontrollen. 

Gleichzeitig zeigen sich in Europa strategische Spannungen: Europe has to become a political adult – or risk irrelevance. Mit dieser Diagnose eröffnete Loukas Tsoukalis, Präsident der Hellenic Foundation for European and Foreign Policy (ELIAMEP), seine Rede bei der diesjährigen ELIAMEP-Summer Academy in Olympia. In einer fragmentierten Welt müsse Europa lernen, geopolitisch zu handeln. Migration ist dabei kein Randthema, sondern Lackmustest. 

Europas Migrationsarchitektur – ein Haus ohne Dach  

Ein Versuch, „Ordnung“ in die europäische Asylpolitik zu bringen, war die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) – beschlossen 2024 als erstes umfassendes Gesetzespaket, seit die strukturelle Dysfunktionalität des Dublin-Systems 2015/2016 offensichtlich wurde. Ziel der Reform ist es, das europäische Asylsystem effizienter, sicherer und gerechter zu gestalten. 

Margaritis Schinas, früherer Vizepräsident der EU-Kommission und maßgeblich an der Ausarbeitung der Reform beteiligt, verglich ihn bei der ELIAMEP-Summer Academy mit einem Haus mit drei Etagen:   

  • Erste Etage: Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitländern   
  • Zweite Etage: Gemeinsame Grenz- und Asylstandards   
  • Dritte Etage: Solidarität und Lastenteilung zwischen Mitgliedstaaten

Der Pakt, so Schinas, sei bewusst als Gesamtarchitektur entworfen worden – ein integriertes System, in dem alle Etagen gleichzeitig gebaut werden sollten. Doch er räumte auch ein: Each group of member states wanted to ‚take the lift‘ to their preferred floor without building the full house. 

Während einige Länder sofortige Solidarität einforderten, pochten andere auf Grenzschutz und Dritsstaatenabkommen.

Schon vor der Umsetzung der beschlossenen Reform werden strukturelle Uneinigkeit und fehlende politische Kohärenz  offenkundig. NGOs warnen: Die EU verankere in ihren Verfahren zunehmend Abschottung statt Schutz – mit teils gravierenden Folgen für die Menschenrechte an den Außengrenzen. 

Deutschlands doppelte Agenda  

Der migrationspolitische Kurs Deutschlands hat sich mit dem Regierungswechsel 2025 sichtbar verändert. Während die frühere Ampelkoalition bei Themen wie Grenzkontrollen und Drittstaatenregelungen noch uneinig war, setzt die neue Bundesregierung nun deutlich restriktivere Schwerpunkte: ausgeweitete Grenzkontrollen, mehr Rückführungen und neue Drittstaatenabkommen. In ihrer Logik ist das konsequent – nationale Maßnahmen gelten als notwendig, solange europäische Verfahren nicht greifen. Der einstige Verteidiger humanitärer Standards wird zum Architekten restriktiver Modelle. Abschreckung wird zur Maxime – nicht zur Ausnahme. 

Was auf dem Spiel steht

Die sicherheitspolitische Falle  

Was auf dem Spiel steht, ist mehr als eine politische Linie: Polens Außenminister Radosław Sikorski warnte im Juli 2025: Anti-immigrant hysteria harms Poland, it awakens the worst demons1 – Gleichzeitig betonte er, dass Staaten das Recht hätten, ihre Grenzen zu kontrollieren. 

Auch in Deutschland wird Migration zunehmend als Bedrohung inszeniert – obwohl die Asylzahlen rückläufig sind. Wenn Migration stigmatisiert wird und Migrant*innenrechte in Frage gestellt werden, leidet nicht nur deren gesellschaftliche Stellung: Es geraten auch zentrale Fundamente demokratischen Zusammenlebens ins Wanken – Recht, Vertrauen, Zusammenhalt. 

Zugleich setzt Berlin auf Migrationspartnerschaften – doch ohne strategische Glaubwürdigkeit bleiben viele Vereinbarungen hinter den Erwartungen zurück. Die Migrationsforscherin Victoria Rietig warnte bereits: „Carrots and sticks in migration cooperation have limited impact if strategic trust and longer-term partnerships are lacking.“2 Anreize und Druckmechanismen wirkten nur dann, wenn sie in glaubwürdige, strategisch geführte Partnerschaften eingebettet seien – das aber fehlt oft. 

Was zu tun ist 

Der Mittelmeerraum als Stresstest  

Migration über das Mittelmeer ist keine Ausnahme, sondern Teil einer langen Geschichte grenzüberschreitender Mobilität – geprägt von Handel, Austausch und kultureller Verbindung. Gleichzeitig ist sie Ausdruck wachsender globaler Spannungen: Klimawandel, demografischer Druck, wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, politische Instabilität und kriegerische Konflikte.  

Der Mittelmeerraum steht im Zentrum dieser Dynamiken. Er wird damit zum geopolitischen Testfall europäischer Migrationspolitik.  

In diesem Kontext bietet der geplante „EU Pact for the Mediterranean“ (Oktober 2025) die Chance für einen Neuanfang. Der Pakt versteht sich als Fortentwicklung des einst visionären Barcelona-Prozesses. Dreißig Jahre nach dem Start der Euro-Mediterranen Partnerschaft setzt der EU-Pakt unter Leitung von Kommissarin Dubravka Šuica einen neuen Rahmen: Migration wird nicht isoliert behandelt, sondern in eine ganzheitliche regionale Strategie eingebettet.   

Ziel des Pakts ist es, Migrationspolitik, Bildung, Klimaschutz, Handel, Infrastruktur, Beschäftigung und Sicherheit in einem regionalen Rahmen zusammenzuführen – unter aktiver Einbindung von Zivilgesellschaft und Bildungsakteuren. Damit knüpft der Mittelmeerpakt an bestehende Elemente der EU-Außenpolitik an, wie sie etwa seit 2023 in Kooperationen mit Tunesien, Ägypten, Libanon und Mauretanien verfolgt werden, geht aber einen Schritt weiter: Migration wird nicht isoliert behandelt, sondern als Teil einer breiteren, strukturpolitisch gedachten Nachbarschaftsstrategie verstanden. 

Drei Handlungsebenen für Berlin  

  1. Legale Mobilität fördern: Im Sinne des Pakt-Ziels der geregelten Mobilität sollte Deutschland zusätzliche legale Migrationswege ausbauen – etwa durch Ausbildungsprogramme, Arbeitsvisa und Mobilitätspartnerschaften. Was heute die Ausnahme ist, muss zum Regelfall werden, um etwa den Bedarf an Fachkräften zu decken – nicht nur für hochqualifizierte Migrant*innen, sondern auch für Menschen mit mittleren Qualifikationen.   
  1. Partnerschaften neu denken: Weil der Pakt Partnerschaften auf Augenhöhe betont, brauchen die EU-Abkommen mit Mittelmeer-Staaten eine Neuausrichtung – weg von einseitiger Konditionalität, hin zu echter Mitgestaltung durch die Partnerländer. Nur so entsteht das strategische Vertrauen, das für eine langfristige Zusammenarbeit nötig ist.  
  1. Wissensräume stärken: Um die Ziele des Mittelmeerpakts mit Leben zu füllen, sollte Deutschland gezielt Formate unterstützen, die Dialog, Vertrauen und langfristige Kooperationen fördern. Dazu zählen insbesondere die Euro-Mediterranean Study Commission (EuroMeSCo) – ein Netzwerk aus Forschungsinstituten, das seit Jahren den wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Austausch im Mittelmeerraum stärkt – sowie die geplante Mediterranean University for a Shared Future. Diese soll als akademisches Kooperationsprojekt Studienprogramme, Mobilitätsangebote und Forschung zwischen Nord- und Südmittelmeer fördern. Deutschland kann hier mit seiner Wissenschaftsdiplomatie eine zentrale Rolle spielen – und so Bildung zur Brücke machen, anstatt Migration nur zu kontrollieren. Solche Räume sind keine Nebenschauplätze, sondern strategische Infrastruktur für echte Partnerschaft – jenseits von Grenzschutz und Ad-hoc-Abkommen.  
Fazit

Vom Spagat zur strategischen Verantwortung 

Deutschland steht migrationspolitisch an einem Scheideweg – zwischen sicherheitspolitischer Symbolik und europäischer Gestaltungskraft. Wer in Brüssel von Verantwortung spricht, kann sich zu Hause nicht hinter Abschottung verschanzen. Die Glaubwürdigkeit Europas beginnt in Berlin.[Textumbruch] [Textumbruch]Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems war ein notwendiger Schritt – mit dem Ziel, Verfahren effizienter und gerechter zu machen. Doch der politische Fokus liegt vielfach auf Kontrolle. Was fehlt, ist ein strategischer Rahmen, der Migration als europäische Strukturfrage begreift. 

Genau hier setzt der geplante EU-Mittelmeerpakt an: Er ergänzt bestehende außenpolitische Ansätze – die bislang oft sicherheitspolitisch dominiert und kritisch diskutiert wurden, etwa im Fall des Tunesien-Deals – um einen stärker regionalen Zugang, der auf Partnerschaft und Gestaltung auf Augenhöhe zielt. Migration wird so Teil europäischer Nachbarschaftspolitik – nicht bloß ein Sicherheitsproblem. 

Für Deutschland heißt das: Wer europäische Verantwortung einfordert, muss selbst vorangehen – durch legale Wege, gleichberechtigte Partnerschaften und Investitionen in Wissensräume wie EuroMeSCo oder die Mediterranean University. 

Nur wenn Europa strategisch und menschenwürdig handelt, bleibt es ein glaubwürdiges Gegenmodell in einer autoritärer werdenden Welt. 

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