„Die Berliner Republik läuft bis heute auf Bonner Software.“
Die Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus stellt gewohnte sicherheitspolitische Strukturen infrage und eröffnet zugleich die Möglichkeit, deutsche Außen- und Sicherheitspolitik neu zu denken. In Zeiten wachsender Unsicherheit braucht Deutschland ein strategisches Bewusstsein, das auf Selbstkenntnis, Priorisierung und neue Zukunftsvisionen setzt. „Net Assessment“ und „Wargaming“ können helfen, neue Handlungsspielräume zu erkennen und gezielt zu nutzen.
Autor:innen
Dr. Joseph Verbovszky – Leiter AG Sicherheit und Atlantik, Regionalleiter Berlin, Co-Direktor des German Wargaming Center an der Helmut-Schmidt-Universität
Paul Simon Schmidt – Stellvertretender Leiter AG Sicherheit, Persönlicher Referent Sebastian Hartmann MdB und Stellvertretender Vorsitzender ASVP (Außen- und sicherheitspolitische Vereinigung der Parlamentsmitarbeiter)
Xenia Schröder – Stellvertretende Leiterin AG Sicherheit und Regionalleiterin NRW; Projektmanagerin beim German Wargaming Center an der Helmut-Schmidt-Universität

Einführung
Der Wiedereinzug von Donald Trump ins Weiße Haus wurde bei vielen Verbündeten der USA als Gefahr für bis dahin geltende Gewissheiten wahrgenommen. Aus deutscher Sicht hat der Beginn der Amtszeit Trump 2.0 nicht nur Auswirkungen auf die US-Sicherheitsgarantien für Europa und das enge transatlantische Bündnis, sondern auch auf die eigene nationale Sicherheit. Gleichzeitig birgt diese Unsicherheit die Chance, ein neues strategisches Bewusstsein in der deutschen Sicherheitspolitik zu entwickeln. Mit Blick auf die aktuellen geopolitischen Entwicklungen könnte dies für Deutschland die Gelegenheit bieten, sich von überholten Denkmustern in der eigenen Sicherheitspolitik zu lösen.
Die russische Vollinvasion der Ukraine 2022 machte den hierzulande lange verdrängten Investitionsbedarf in den Verteidigungsbereich unübersehbar. Dennoch verließ sich Deutschland zunächst maßgeblich auf die strategische Führung der USA, was die militärische Unterstützung der Ukraine anging. Durch Trumps Infragestellung der US-Verpflichtung, Europa im Fall eines Angriffs zu schützen, werden allerdings Europa und insbesondere Deutschland gezwungen, ein neues strategisches Bewusstsein zu entwickeln.
Die Verunsicherung in den transatlantischen Beziehungen muss nicht zwangsläufig eine vollständige Abkehr der USA bedeuten. Doch bereits die bloße Möglichkeit, dass Deutschland und Europa ohne Schutz dastehen könnten, macht eine Reflexion des bestehenden Sicherheitsgefüges notwendig. Im Falle eines Rückzugs der USA und damit ihres nuklearen Schutzschirmes für Europa im Rahmen von Artikel 5 wäre Deutschland anderen Nuklearmächten, z.B. Russland, ausgeliefert. Es stellt sich somit die Frage, wie Deutschland die transatlantischen Beziehungen selbstbewusster gestalten kann. Denn nur so ließe sich eine neue Sicherheitsordnung umsetzen, die allen Beteiligten nützt – Europa und den USA.
Deutschland braucht neue methodische Ansätze des strategischen Denkens, die eine Weiterentwicklung seines strategischen Bewusstseins ermöglichen. Dazu gehört die Fähigkeit, die eigene sicherheitspolitische Ausgangslage umfassend zu analysieren – sowohl in geografischer Hinsicht als auch im Kontext globaler Wertschöpfungs- und digitaler Netzwerke. Dabei werden Ressourcen, Instrumente und das eigene nationale Potenzial erfasst und eingeordnet – nicht nur im Verhältnis zu möglichen Gegnern, sondern auch im Rahmen bestehender Bündnisse. Doch eine reine Analyse genügt nicht, um alte Muster aufzubrechen – Deutschland muss lernen, in Zeiten begrenzter Ressourcen Prioritäten zu setzen und das eigene Handeln dementsprechend auszurichten. Hierzu bietet die Methode „Wargaming“ die Möglichkeit, in einer sicheren Umgebung, neue, unbekannte Zukünfte vorzustellen, Handlungsoptionen zu erproben und mögliche Konsequenzen zu untersuchen.
Übertragen auf die aktuelle Lage können diese Fähigkeiten Deutschland ermöglichen, strategische Antworten auf die Ungewissheit amerikanischer Politik zu entwickeln und die eigene Rolle in der transatlantischen Sicherheitsarchitektur gezielt zu stärken.
Definition
Ein strategisches Bewusstsein umfasst eine Vision Deutschlands Rolle in der Welt sowie konkrete Ziele, die zu ihrer Verwirklichung notwendig sind. Diese Ziele setzen ein Verständnis für Deutschlands globale Position voraus – sowohl in der geopolitischen Landschaft als auch innerhalb globaler Wertschöpfungs- und digitaler Netzwerke. Dazu gehört auch die Einordnung der verfügbaren Ressourcen und außenpolitischer Instrumente – von klassischen nationalen Mitteln bis hin zu multilateralen Formaten und Partnerschaften, in denen Deutschland eine gewichtige Rolle spielt und die es Deutschland ermöglichen, eigene Ziele zu priorisieren und umzusetzen. Ein ausgeprägtes strategisches Bewusstsein ist Voraussetzung für eine wehrhafte Demokratie und eine handlungsfähige Außen- und Sicherheitspolitik in einer zunehmend unsicheren Welt.
Worum es geht
Nach den traumatischen Erlebnissen des Zweiten Weltkriegs sollte die Identität der jungen Bundesrepublik Deutschland bewusst im Gegensatz zur autoritären Vergangenheit gestaltet werden. Diese Identität basiert bis heute auf den Lehren aus der Vergangenheit und prägt sowohl innen- als auch außen- und sicherheitspolitische Entscheidungsprozesse, indem sie immer wieder die Bedeutung und Zerbrechlichkeit der Demokratie betont. Sie lässt sich auf unterschiedliche Ausprägungen des berühmten „Nie wieder“ herunterbrechen. So klar diese Lehre zunächst erscheint, fällt diese angesichts konkreter außenpolitischer Entwicklungen allerdings oft widersprüchlich aus und lässt viel Raum für Interpretation, was zu Unsicherheiten bei politischen Entscheidungen führt. Deshalb wird im politischen Diskussions- und Entscheidungsprozess häufig versucht, diese Lehre mit in eine moderne Sicherheitspolitik zu übertragen, um zwingend im Einklang mit der deutschen Identität zu sein. Diese Priorisierung des „richtigen Weges“ führt jedoch zu einer stark konformen Sicherheitspolitik, die bestenfalls nur gelegentlich effektiv ist. Statt einer klaren Definition dessen, was deutsche Sicherheitspolitik beinhalten und leisten soll, liegt der Fokus vielmehr darauf, was sie vermeiden will.
Während des Kalten Krieges war es weniger das Ziel Deutschlands, eine militärisch effektive Sicherheitspolitik zu erlangen, als die Weltgemeinschaft, von seiner Reformfähigkeit zu überzeugen. In dieser Hinsicht war das damalige strategische Bewusstsein durchaus erfolgreich. Durch die transparente Berücksichtigung historischer Befindlichkeiten in sicherheitspolitischen Entscheidungsprozessen konnte Deutschland Vertrauen und Glaubwürdigkeit zurückgewinnen und sich einen festen Platz in der internationalen Staatengemeinschaft sichern. Dies war nicht zuletzt auch ein entscheidender Faktor bei der Wiedervereinigung. Insofern war das strategische Bewusstsein der Bundesrepublik im Kalten Krieg eine Rezeptur für Erfolg.
Nach der Wende jedoch hat Deutschland dieses Bewusstsein nicht substanziell weiterentwickelt. Die Berliner Republik läuft bis heute auf Bonner Software.
Der moralische Anspruch, geprägt von der deutschen Geschichte, das symbolpolitische „Richtige“ zu tun, führte dazu, dass militärische Effektivität vernachlässigt oder gar zu einem „strukturellen Pazifismus“ wurde, der die eigene Handlungsfähigkeit einschränkte und negative Folgen für Deutschland sowie seine Verbündeten mit sich brachte.
Ein Grund für das Festhalten an überholten strategischen Mustern liegt unter anderem in der Auslagerung strategischer, sicherheitspolitischer Entscheidungen an die USA. Paradoxerweise ermöglichte bisher gerade die Glaubwürdigkeit der US-Sicherheitsgarantie – insbesondere durch Artikel 5 der NATO und den nuklearen Schutzschirm – Deutschland, das Angebot von „Partnership in Leadership“ sowie die Forderungen verschiedener US-Präsidenten, mehr in die eigene Verteidigung zu investieren, weitgehend zu ignorieren.
Was auf dem Spiel steht
Trumps transaktionelle Politik und Infragestellung transatlantischer Gewissheiten macht eine Erneuerung des strategischen Bewusstseins nicht nur möglich, sondern notwendig.
Der russische Angriff auf die Ukraine hat deutlich gezeigt, dass Deutschland mehr in die eigene Verteidigung investieren muss. Dennoch hat Deutschland anfänglich weiterhin zögerlich agiert. So sah die mittelfristige Lösung zunächst nur eine Stagnation des Verteidigungsbudgets vor – obwohl längst klar war, dass das Sondervermögen von 100 Milliarden lediglich Lücken in der Verteidigung stopfen würde. Eine dauerhafte Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit wäre nur durch strukturelle Verstetigung möglich. Auch Waffenlieferungen zur Unterstützung der Ukraine wurden erst nach langen, offen ausgetragenen Diskussionen möglich.
Diese Waffenlieferungen stellten allerdings eine Ausnahme der deutschen Rüstungsexportpolitik dar und waren weniger das Zeichen einer Neuausrichtung. Die USA blieben somit weiterhin Impulsgeber für die strategische Richtung europäischer Sicherheitspolitik, obwohl sie seit Jahren ein stärkeres europäisches Auftreten und eine aktivere deutsche Führungsrolle einfordern.
Mit Trumps Wiederwahl zeichnet sich erneut eine größere Bewegung in der deutschen Sicherheitspolitik ab. Die Aussicht auf eine stabile zweite Amtszeit sowie eine Administration, die Trumps Politik entschlossen mittragen und umsetzen wird, zeigt deutlich, dass die US-amerikanische Sicherheitspolitik transaktional bleiben wird.
Trumps Infragestellung der amerikanischen Sicherheitsgarantien, insbesondere ihrer Bedingungslosigkeit, hat bereits historische Reaktionen in Deutschland und Europa ausgelöst. Beim letzten NATO-Gipfel haben sich alle Mitgliedstaaten verpflichtet, bis 2035 fünf Prozent ihres jeweiligen BIP für Verteidigung oder verteidigungsrelevante Infrastruktur auszugeben. Auch Deutschlands mittelfristige Planung sieht einen deutlichen Aufwuchs des Verteidigungsbudgets vor.
Die lang überfällige dauerhafte Erhöhung der Finanzierung der Verteidigungsfähigkeit ist eine lobenswerte, wenn auch allein nicht ausreichende Maßnahme, um der gegenwärtigen Situation gerecht zu werden. Es setzt weiterhin voraus, dass die USA bedingungslos an der Sicherheitsgarantie festhalten, was unter der Trump-Administration keineswegs garantiert ist. Diese Ungewissheit bedeutet, dass Deutschland sich auf alternative Zukünfte vorbereiten muss.
Dabei geht es nicht um eine europäische Autonomie im Sinne einer strategischen Abkopplung von den USA, sondern vielmehr darum, dass Deutschland die transatlantische Sicherheitsarchitektur als eigenständiger Partner aktiv mitgestaltet. Unter anderem bedeutet dies eine selbstbewusstere Vertretung deutscher Prioritäten gegenüber unserem transatlantischen Partner, ein realistisches Verständnis der Interessen von Verbündeten und Gegnern sowie die Fähigkeit, die eigenen Schwächen und Stärken zu erkennen. Es geht darum, dass Deutschland eine eigene, positive Vision der transatlantischen Zukunft erstellt, die seiner neuen Rolle als Führungsmacht in Europa gerecht wird.
Was zu tun ist
Um eine neue Partnerschaft für die transatlantische Zukunft zu entwickeln und zu verfolgen, muss Deutschland zunächst seine alten strategischen Muster aufbrechen. Hierzu müssen konkrete Maßnahmen getroffen werden, um alternative Zukünfte zu beleuchten und eine gewisse Handlungssicherheit in ungewissen Zeiten zu gewinnen. Zwei Instrumente können besonders helfen, strategische Klarheit zu schaffen und systematisch neue Handlungsoptionen zu erschließen: „Net Assessment“ und „Wargaming“.
- Net Assessment
Net Assessment ist ein multidisziplinärer, vergleichender Analyseansatz zur Bewertung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit von Staaten oder Bündnissen im sicherheitspolitischen Kontext. Dabei werden militärische, technologische, wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Faktoren integriert, um die relative Leistungsfähigkeit zwischen strategischen Akteuren zu verstehen. Ziel ist es, Asymmetrien zu identifizieren, die als Chancen oder Risiken besondere Aufmerksamkeit von Entscheidungsträgern verdienen.
Im Gegensatz zu kurzfristigen Risikoanalysen oder klassischen Lagebildern ist Net Assessment weder ein Frühwarnsystem für akute Bedrohungen noch eine klassische Bedrohungsanalyse. Vielmehr handelt es sich um einen langfristigen, strategischen Denkansatz, der darauf zielt, Entwicklungen über Jahre oder Jahrzehnte hinweg zu antizipieren, insbesondere im Kontext eines andauernden strategischen Wettbewerbs, etwa zwischen Großmächten.
In den USA wurde dieser Ansatz maßgeblich durch Andrew Marshall geprägt, dessen Arbeit im Kalten Krieg darauf abzielte, die strategischen Stärken und Schwächen der Sowjetunion im Vergleich zu den USA langfristig zu analysieren, nicht um einen Krieg zu planen, sondern um ihn zu vermeiden oder erfolgreich zu überstehen.
Für Deutschland lässt sich dieses Konzept nicht eins zu eins übertragen. Anders als die USA im bipolaren Kalten Krieg ist die Bundesrepublik heute eingebettet in ein Netzwerk bi- und multilateraler Beziehungen, sowohl innerhalb von Bündnissen als auch der NATO und der EU als im Umgang mit Drittstaaten entlang eines „Continuum of Competition“.
Ein deutsches Net Assessment muss daher breiter angelegt sein. Es müsste potenzielle Gegner ebenso analysieren wie Alliierte, Partner und neutrale Akteure und dabei nicht nur militärische Fähigkeiten, sondern auch zivile und diplomatische Einflussfaktoren stärker einbeziehen und neben klassischen Bedrohungen auch hybride Herausforderungen wie Desinformation, wirtschaftliche Abhängigkeiten und technologische Verwundbarkeit berücksichtigen.
Ein solches Net Assessment muss also in die Breite denken, ohne dabei strategische Tiefe zu verlieren. Es kann helfen, Lücken in der deutschen strategischen Wahrnehmung zu schließen, Prioritäten klarer zu setzen und resilientere Entscheidungen im Kontext wachsender Unsicherheit zu treffen.
- Wargaming
Eine umfassende Analyse der deutschen Ausgangslage reicht nicht aus, um Entscheidungen ins Ungewisse zu treffen – strategisches Denken muss auch praktisch erprobt werden. Die Methodik Wargaming bietet hier eine besonders geeignete Ergänzung zu einer strategischen Analysefähigkeit. In Ergänzung zu Net Assessment kann Wargaming ein mächtiges Instrument sein, um neue Strategien zu entwickeln. Ein Beispiel dafür ist die bereits etablierte Praxis des „Best Practice“ beim britischen Secretary of State’s Office of Net Assessment and Challenge (SONAC).
Laut dem Wargaming-Handbuch der Bundeswehr nutzt diese Methode szenarienbasierte Modelle in einer konfliktdarstellenden „Safe-to-fail“-Umgebung. In dieser beeinflussen sich Ereignisse, menschliche Entscheidungen und resultierende Ergebnisse wechselseitig. Wargames erzeugen künstlichen Entscheidungsdruck: Die Teilnehmenden werden mit schwierigen Entscheidungen und deren Konsequenzen konfrontiert, ohne sie real erleben zu müssen. Als Teil eines „Strategic Foresight“-Prozesses, können Wargames genutzt werden, die Interessen verschiedener Akteure zu berücksichtigen um, alternative und vor allem unbekannte Zukunftsszenarien vorzustellen. Dies wiederum kann helfen, überkommene außenpolitische Denkmuster aufzubrechen und eine strategische Vorstellungskraft zu fördern – eine Voraussetzung dafür, dass in Deutschland neue gesellschaftliche und politische Zukunftsbilder entstehen.